"Unsere Stärke ist das gemeinsame Handeln"

Schwerpunktthema: Rede

Prag/Tschechien, , 30. April 2024

Bundespräsident Steinmeier hat am 30. April auf seiner Reise in die Tschechische Republik bei der Konferenz „20 Jahre Tschechien in der EU“ in Prag eine Rede zur EU-Osterweiterung gehalten. Er betonte: "Lassen wir nicht zu, dass die Skepsis gewinnt! Zuversicht war und ist [...] gerechtfertigt!"

Bundespräsident Steinmeier hält eine Rede bei einer Konferenz in der Prager Burg

Wir alle erinnern uns an die Bilder jener Nacht vom 30. April auf den 1. Mai vor 20 Jahren: Mit einer Kaskade goldener Sterne erleuchtete ein Feuerwerk die Türme hier über dem St.-Veits-Dom. Zehntausende feierten in den Straßen von Prag. Frauen, Männer und Kinder tanzten und sangen bei Konzerten in Vilnius und Valletta, sie umarmten einander in den Gassen von Nikosia und Budapest.

Nicht nur in den Hauptstädten, auch überall dort, wo der Eiserne Vorhang über so lange Zeit die Menschen voneinander getrennt hatte, rückte man der vergangenen Macht der Grenzen zu Leibe: In Železná Ruda/Bayerisch Eisenstein an der tschechisch-deutschen Grenze war es nicht Feuerwerk, das die Nacht erhellte, sondern der Funkenflug einer Flex, mit der der alte Schlagbaum entfernt wurde. Und in Frankfurt an der Oder wurde die Brücke der Freundschaft um Mitternacht in leuchtend blaues Licht getaucht. Im slowenischen Nova Gorica ersetzten Rosenbüsche den eisernen Zaun, der mitten durch die geteilte Stadt verlaufen war.

Was die Menschen in jenen Stunden feierten, war ein historischer Augenblick, ein europäischer Glücksmoment. Und wer sich einige der vielen Filme und Fotos ansieht, die von jener Nacht gemacht wurden, der kann in sehr vielen Gesichtern vor allem eines entdeckten: Freude. Große Freude.

Heute, 20 Jahre später, spüren wir alle: In diesem lange Zeit friedlichen, erweiterten Europa feiert es sich nicht mehr ganz so leichten Herzens. Wir erleben gerade jetzt die größte Herausforderung für den Europäischen Kontinent seit dem Zweiten Weltkrieg. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist der Krieg zwischen Staaten nach Europa zurückgekehrt. Mit diesem ruchlosen Überfall auf unseren europäischen Nachbarn steht die Idee des friedlichen, souveränen Zusammenlebens der demokratischen Länder in Europa wortwörtlich Tag und Nacht unter Beschuss. Der Angriff auf die Ukraine ist ein Bruch des Völkerrechts. Er ist ein Angriff auf den Frieden und das Recht – und das weit über die Ukraine hinaus.

Das besorgt uns alle. Das betrifft uns alle. Aber es ist nicht das Einzige, was uns besorgt und betrifft. Auch innerhalb unserer Europäischen Union werden grundlegende demokratische Werte, ja wird das europäische Projekt von verantwortungslosen Populisten in Frage gestellt.

Ich denke in diesen Tagen manchmal an das Bild des Kreises, zu dem sich die goldenen Sterne auf unserer Europäischen Flagge zusammenschließen. Das Bild dieses Sternenkreises zeigt den Charakter unserer freiheitlichen Gemeinschaft: Wir sind miteinander verbunden und zugleich ist jeder für sich frei. Wir haben Zeit und Geduld gebraucht, uns als Union genau so aufzustellen. Und trotzdem ist es wichtig, dass wir beweglich bleiben, uns neu ausrichten können, wenn die Umstände sich ändern. Wir haben mit der Europäischen Union etwas zu verteidigen, das durchaus nicht unzerstörbar ist. Darauf hat ja gerade auch unser Freund Emmanuel Macron in seiner Sorbonne-Rede hingewiesen. Es wäre sogar gefährlich für uns alle anzunehmen, so zu denken, so zu handeln, als sei unsere Aufstellung, einmal getan, für immer garantiert.

Wir im geeinten Europa haben mit unserer Verankerung in einer europäischen Werte- und Rechtsgemeinschaft der Welt gezeigt, wie ein Zusammenleben auf der Grundlage demokratischer Ordnung und des Friedens gelingen kann. Wir wissen, dass wir durch eine Zeit der Unsicherheit und der Umbrüche jetzt steuern müssen. Wir wissen, dass wir das geeinte Europa verteidigen müssen, wenn unsere Nachkommen ein ebenso friedliches Europa in Vielfalt erben sollen.

Dass wir jetzt gemeinsam handeln, ist so entscheidend wie vor 20 Jahren. Und so werden diese Tage des Jubiläums in diesem Jahr zu einem Anlass, an dem wir vielleicht nicht unbeschwert feiern können, dafür aber umso klarer auf das blicken können, was wir schon erreicht haben, auch auf das, was gefährdet ist und was für eine sichere Zukunft der EU getan werden muss.

Wir alle gemeinsam haben in der Europäischen Union 2004 eine einmalige, eine historische Chance genutzt. Es würde viel zu kurz greifen, wenn ich sagte: Die zehn neuen Staaten in Ost- und Mitteleuropa in die EU aufzunehmen, das bedeutete die größte Erweiterung unseres Bündnisses. Die EU-Osterweiterung bedeutete vor allem, die ahistorische Teilung Europas zu überwinden. Sie bedeutete, den Eisernen Vorhang ins Reich der Geschichte zu verbannen. In einer Zeit, in der sich die Welt neu sortierte, hat Europa damals weitreichende strategische Entscheidungen getroffen. Das war nicht weniger als ein epochaler Wandel. Oder wie unser damaliger Erweiterungskommissar Günter Verheugen im Rückblick sagte: ein Akt historischer Gerechtigkeit.

Aber wir erinnern uns: Auch vor 20 Jahren wurde nicht nur gefeiert. Es gab auch Sorge bei einigen, ob wir gemeinsam der Herausforderung dieses Mammutprojekts gerecht werden könnten. Und viele Menschen hatten ganz individuelle Zweifel. Es sind Zweifel, die immer entstehen, bei den ganz großen Veränderungsprozessen. Veränderungsprozesse, wie sie uns in der Gegenwart vielleicht auch begegnen.

Damals wie heute meine ich: Lassen wir nicht zu, dass die Skepsis gewinnt! Zuversicht war und ist, davon bin ich überzeugt, gerechtfertigt! Erst recht jetzt, 20 Jahre später, wenn wir bilanzieren: Alle, die der EU ein Scheitern vorausgesagt haben, sehen ein Bündnis, das sich in vielen Krisen als widerstandsfähig erwiesen hat. Widerstandsfähiger als wir vielleicht geglaubt haben. Zur Bilanz gehört in diesen Tagen und Wochen auch die Erkenntnis, dass scheinbar erreichte Gewissheiten nicht selbstverständlich gesichert sind. Wir werden uns schmerzlich bewusst, dass das friedliche Zusammenleben in Vielfalt immer wieder verteidigt werden muss. Und wir werden uns bewusst, dass überzogener Nationalismus auch wieder zum Krieg führen kann. Auch im 21. Jahrhundert.

Möglicherweise haben wir in den Zeiten des Rückenwinds, die hinter uns liegen, den grundlegenden und großen Wert dieser Europäischen Union zu lange mit etwas zu großer Selbstverständlichkeit hingenommen. Wenn man etwas weiter zurückblickt, dann wird klar, dass das, was für uns heute Alltag ist, eigentlich immer noch ein Wunder ist. Oder sagen wir: Eine Mischung aus beharrlicher politischer Arbeit und gewaltigem historischem Glück.

Ich meine, gerade angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen, lohnt es sich, diesem Rückblick etwas Zeit zu schenken. Fast zeitgleich mit dem Jubiläum von 20 Jahren EU-Erweiterung erinnern wir in diesem und im nächsten Jahr auch an die weiter zurückliegende Vergangenheit unseres Kontinents. An das 20. Jahrhundert, das Europa wieder und wieder in die Katastrophe stürzte. Wir werden in diesen und den kommenden Monaten der Schrecken des Zweiten Weltkrieges gedenken. Des alles zerstörenden Horrors, den die Nationalsozialisten über Europa brachten. Wir werden auf der Westerplatte in Polen an den Beginn des Krieges erinnern und vor den Ruinen von Oradour-sur-Glane in Frankreich an die Gräueltaten der SS, die die Bevölkerung ganzer Dörfer und Landstriche auslöschte.

So wie beim Massaker von Lidice, jener furchtbaren Terroraktion der deutschen Besatzer, die sich im Juni jährt. Sie war als Racheakt für den mutigen Anschlag auf Reinhard Heydrich, den "Schlächter von Prag“ gedacht. Bei meinem letzten Besuch hier in Prag vor drei Jahren habe ich an der Kirche St. Cyrill und Method zum Gedenken an die Widerstandskämpfer und die vielen ermordeten Zivilisten, die von den Nazis beschuldigt wurden, ihnen geholfen zu haben, einen Kranz niedergelegt. Das war für mich einer der bedrückendsten und zugleich wichtigsten Momente meiner ersten Amtszeit.

In Lidice erschossen die Nazis damals alle Männer – der jüngste war ein Kind von nicht einmal 15 Jahren, der älteste 90. Die meisten Frauen wurden in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Viele der Kinder wurden kurze Zeit später im Vernichtungslager Chełmno ermordet.

Lidice gab es danach nicht mehr. Die Nationalsozialisten hielten in ihrem zynischen Todeskult diesen Akt der Zerstörung fest – mit einem eigens produzierten Film. Und die Alliierten, sie schrieben den Namen des Dorfs, Lidice, auf ihre Waffen und Bomben, mit denen sie Europa vom Nationalsozialismus befreiten.

Europa in der Stunde null war also mehr als ein Zeitalter entfernt von unserem heutigen geeinten Europa. Damals blickten viele Länder misstrauisch aufeinander, besonders auf mein Land, von dem so viel Grauen und Vernichtung ausgegangen war. Städte und Dörfer waren vom Krieg verheert, Kinder wuchsen ohne ihre Väter auf, die gefallen waren. Ganze Familien waren ermordet, ganze jüdische Gemeinschaften vernichtet worden. Millionen Überlebende waren vertrieben, geflüchtet, heimatlos. An der Zukunft bauen, das hieß für die meisten Menschen nach 1945 erst einmal, überhaupt ein eigenes Dach über dem Kopf zu haben, sein eigenes Leben wiederfinden.

Wenn ich hier heute als deutsches Staatsoberhaupt bei engen Freunden und Nachbarn zu Besuch bin und unsere enge und vertrauensvolle Verbindung spüre, dann denke ich auch daran, wie lange im Nachkriegseuropa zwischen unseren beiden Ländern das herrschte, was Libor Rouček einmal so schlicht als das Fehlen jeglicher politischer Kontakte bezeichnet hat. Wenn es einen Kontakt gab, dann war er nicht ermutigend: Die Gründung der Bundesrepublik, deren 75. Geburtstag wir in wenigen Wochen feiern werden, war damals Anlass für die Tschechoslowakische Republik, eine Protestnote zu veröffentlichen. Umgekehrt wollte die Bundesrepublik damals noch nicht über diplomatische Beziehungen zu einem Staat nachdenken, der die DDR anerkannt hatte. Im komplizierten Verhältnis zwischen unseren beiden Ländern verliefen nun zwei Trennlinien: Die emotionale Grenze der jüngsten Vergangenheit. Und eine territoriale Grenze von globaler Bedeutung zwischen zwei Systemen. Von hier aus war es ein langer Weg bis zur Deutsch-Tschechischen Erklärung von 1997, in der wir festhielten, dass unsere beiden Staaten nicht die Vergangenheit vergessen - aber gemeinsam nach vorne schauen.

Heute haben sowohl Tschechien als auch Deutschland allen Grund, den Beitritt Tschechiens vor 20 Jahren zu feiern. Wir alle haben von diesem Schritt profitiert – nicht allein wirtschaftlich, sondern vor allem als Nachbarn. Und ich bin sicher: diese Erfolgsgeschichte wird weitergeschrieben werden. Die Europäische Union hat Tschechien verändert, aber Tschechien hat auch die Europäische Union verändert. Auch die gemeinsame Währung steht weiterhin allen offen. Natürlich liegt diese Entscheidung einzig und allein beim nationalen Souverän. Aber meine Botschaft ist: Wenn das tschechische Volk sich eines Tages so entscheidet, Sie wären uns herzlichst willkommen im Euroraum.

Wir feiern heute den langen Weg, den wir in der EU – erst getrennt und später Stück für Stück gemeinsam – zurückgelegt haben. Das gemeinsame Haus Europa war zu Beginn im besten Fall eine ferne Idee, die dann mühevoll, Schritt für Schritt entwickelt wurde.

Es sollte dauern, bis aus Europa das Friedensprojekt der Neuzeit werden konnte. Aber von Anfang an gab es ein starkes Bekenntnis, auf dem unsere Gemeinschaft gründete, und das hieß damals: Nie wieder Krieg.

Aber was bedeutet dieses Bekenntnis jetzt, da der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist? Ich möchte mit einem Zitat von Václav Havel antworten, der – damals mit Blick auf das Eingreifen der NATO im Kosovo – gesagt hat: Es gibt einfach Situationen, wo man ,Genug!‘ rufen muss. Dann einzugreifen, so Havel, sei nicht nur ein Akt der Solidarität […], sondern auch ein Akt der Selbsterhaltung. Václav Havel hat es, wie so oft, getroffen.

Wie sehr es für uns in der EU jetzt darauf ankommt, entschieden zu handeln, das haben die Menschen in den europäischen Staaten im Osten – im Baltikum, in Polen, in Tschechien – sehr schnell und klar gespürt und benannt! Für sie ist die Erfahrung, ihre Freiheit und Souveränität, und teilweise auch die nationale Identität wiedererlangt zu haben, noch ganz präsent.

Die Gefahr aber, dass diese Freiheit und Souveränität angegriffen werden, sie existiert für das gesamte geeinte Europa der Gegenwart! Denn Russlands Aggression ist ein Angriff auf alle Lehren, die wir in Deutschland und in Europa aus zwei Weltkriegen gezogen hatten. Die Staaten, die im geeinten Europa friedlich und souverän zusammenleben wollen, können auf diesen Angriff eine Antwort geben: Wir unterstützen die Ukraine als integralen Teil von Europa und als künftiges Mitglied der Europäischen Union. Auch hier gilt: Unsere Stärke ist das gemeinsame Handeln. Wir lassen uns nicht aufreiben und nicht spalten.

Es geht jetzt um ganz konkrete Hilfe – und ich bin froh, dass mein Land hier die Ukraine mit einer großen Kraftanstrengung unterstützt: humanitär, finanziell und militärisch. Wir liefern militärische Hilfe in enormem Ausmaß, darunter schwere und schwerste Waffen sowie modernste, hocheffektive Flugabwehrtechnologie. Du, lieber Petr, hast wichtige Initiativen ins Leben gerufen, um der Ukraine zu helfen, an denen wir uns gerne und aus Überzeugung mit einem starken Beitrag beteiligen. Uns verbindet die Überzeugung: Wir alle müssen tun, was wir können, um die Ukraine in ihrem Kampf um Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität bestmöglich zu unterstützen.

Wir haben aus unserer gemeinsamen Geschichte im 20. Jahrhundert eine zentrale Lehre gezogen: Wir brauchen einander. Es ist unsere Verantwortung, unser Europa und seine Menschen mit vereinten Kräften zu schützen. Und genauso, wie wir einander brauchen, brauchen wir in der NATO einander. Mit seiner Erweiterung nach Osteuropa vor 25 Jahren hat das Bündnis wirklich Weitblick bewiesen und seit 25 Jahren sind wir Europäer in der NATO froh, Tschechien und die anderen osteuropäischen Partner an unserer Seite zu wissen. Die Geschlossenheit zwischen der Europäischen Union und der NATO ist unser zentraler Sicherheitsanker, wenn wir  Frieden und Freiheit in unserer Region bewahren wollen.

Den Krieg, den Russland vom Zaun gebrochen hat, darf Russland nicht gewinnen. Russland wird unsere Festigkeit und Geschlossenheit testen – immer wieder. Wir müssen den Test bestehen und Stärke zeigen. Nicht nur heute! Die Ukraine wird unsere Unterstützung weiter brauchen. Und wir brauchen dabei alle einen langen Atem. Solidarität hat kein Verfallsdatum!

So stehen wir jetzt, 20 Jahre nach der größten Erweiterung unseres Bündnisses, erneut in einer historischen Situation, in der wir alles daran setzen müssen, unser Ziel des friedlichen Zusammenlebens in Freiheit und Demokratie zu sichern. Erneut stehen zehn Staaten gleichzeitig im Beitrittsprozess. Sie haben sich auf den Weg gemacht. Und eines ist klar: Da Putin seinen zerstörerischen Einfluss überall, wo er kann, aufrechterhalten wird, darf der Westbalkan nicht in einer geopolitischen Grauzone bleiben. Zu einem freien Europa, zu unserer Union, gehören die Staaten des Westbalkan, die Ukraine, Moldau und Georgien.

Mit unseren Erfahrungen haben wir Grund, selbstbewusst allem und jedem entgegenzublicken, was unsere europäische Geschlossenheit herausfordert. Das heißt allerdings nicht, dass wir für die sich wandelnde Welt schon ausreichend gerüstet sind. Um auf Dauer den Frieden zu sichern und unsere Sicherheit zu bewahren, müssen wir uns weiterentwickeln. Ich bin froh, dass die Reformdiskussionen in der EU nicht nur angestoßen sind, sondern dass sie mit Sorgfalt geführt werden und in der nächsten Legislaturperiode des Europäischen Parlamentes weiter an Fahrt gewinnen und hoffentlich zum Abschluss kommen.

Europas Resilienz – als Bündnis, als Friedensprojekt, als Hort der liberalen Demokratie, als gemeinsamer Wirtschaftsraum – wächst mit jedem Tag, an dem wir uns erfolgreich auf einen gemeinsamen Weg verständigen. Das heißt nicht, dass wir uns immer schon im Vornherein in jedem Punkt einig sein müssen.

Wir, diese liberalen, stabilen Demokratien, sind geübt im Aushandeln von Kompromissen, und wir empfinden das nicht als Nachteil, im Finden einer gemeinsamen Linie, obwohl wir uns vielleicht von unterschiedlichen Punkten dieser Linie nähern. Dieses Aushandeln ist der Alltag jener, die in der Europäischen Union und in allen liberalen Demokratien Verantwortung tragen.

Ich gebe zu: Aushandeln klingt nicht gerade nach Ruhm und Abenteuer. Und wer in Brüssel oder Straßburg oder in einem der vielen Sitzungssäle in Europa, die weiß Gott nicht alle so prunkvoll sind wie dieser Saal hier, lange Nächte erlebt hat, der weiß: Partynächte sehen anders aus. Im Maschinenraum Europas ist die Arbeit oft langwierig und anstrengend. Und hinzu kommt noch, dass diese Arbeit nach außen hin gern als „Zerstrittenheit“ dargestellt und wahrgenommen wird, was ungerecht und falsch ist.

Dabei ist dieser Prozess des Aushandelns Garant dafür, dass wir gemeinsam immer wieder Lösungen finden – in Situationen, in denen wir zunächst auseinander standen und dann doch schwierigste Krisen überwunden haben. Gemeinsam haben wir die Schulden- und Eurokrise gemeistert, gemeinsam die Pandemie überwunden. Gemeinsam haben wir uns der enormen Migrationsbewegung gestellt und jetzt endlich eine Einigung bei den Asylverfahren erzielt. Gemeinsam beweisen wir Stärke auch in der Reaktion auf den russischen Angriffskrieg.

Umso mehr müssen wir genau dieses Aushandeln, diesen Kern unserer demokratischen Verständigung immer wieder erklären und verteidigen. Das gilt gerade in einer Zeit, in der Populisten vielen vorgaukeln können, dass die lauteste Stimme angeblich immer die wichtigste Stimme sei. In einer Zeit, in der die Grundwerte des Pluralismus, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit – die Werte unserer gemeinsamen Europäischen Union – angegriffen werden.

Machen wir uns bewusst: Der Grund, auf dem Demokratien wurzeln und gedeihen, ist Vertrauen! Dazu gehört auch das Vertrauen, das informierte Bürgerinnen und Bürger in diejenigen setzen, denen sie die Verantwortung für die Suche nach Lösungen übertragen. Deshalb zielen Populisten darauf, zu spalten und Vertrauen zu untergraben, wo immer es geht: in politische Institutionen, in demokratische Verfahren, in Bündnisse wie die EU, in das friedliche Miteinander der Verschiedenen; in das Vertrauen am Ende auch in uns selbst und in unsere Fähigkeit zu handeln und die Dinge, die noch nicht gut sind, zum Guten zu wenden. Ich bin deshalb den tschechischen Sicherheitsbehörden dankbar, dass sie gerade erst einen Versuch von außen aufgedeckt haben, die Europäische Union mit Desinformation zu destabilisieren.

Auch innerhalb der Europäischen Union muss in diesem entscheidenden Jahr die Demokratie verteidigt werden. Denn mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung hat die Chance in ihrem Land wählen zu gehen – und dazu gehören mehr als 400 Millionen Wählerinnen und Wähler, die ihre Stimme für die Kandidaten des Europäischen Parlaments abgeben können. In der Demokratie zählt die Beteiligung aller. Es ist eher Indifferenz, Gleichgültigkeit, die uns angreifbar macht.

Deshalb kann ich mich dem Aufruf des tschechischen Präsidenten nur anschließen: Machen Sie von der Möglichkeit der Wahl auch tatsächlich Gebrauch! Machen wir uns ganz besonders jetzt bewusst, was auf dem Spiel steht. Wir in Deutschland und in Tschechien wissen, dass eine einmal erlangte Demokratie nicht aus sich heraus für die Ewigkeit garantiert ist. Wir wissen, dass die Stärke der liberalen Demokratie, ihre Toleranz, gleichzeitig auch die verwundbarste Stelle ist. Und wir wissen, dass wir wehrhaft sein und wehrhaft handeln müssen, wenn die Verächter der Demokratie diese Toleranz benutzen, um sie anzugreifen!

Das Motto der letzten tschechischen Ratspräsidentschaft, die uns 2022 so erfolgreich durch schwierige Zeiten steuerte, trifft es weiterhin genau: „Europa als Aufgabe“ lautete es.

Zu wissen, was wir in diesem Jahr feiern, bedeutet auch zu wissen, was wir verteidigen: Europa!

Du hast es im vergangenen Jahr oft gesagt, Petr: Europa ist eine Aufgabe! Dass wir zusammenstehen bedeutet mehr denn je, Verantwortung zu übernehmen. Wir müssen zusammenstehen, wenn wir unsere Erfolgsgeschichte von Frieden, Freiheit und Solidarität fortschreiben wollen. Diese Erfolgsgeschichte ist vielleicht so bedroht wie noch nie in der Europäischen Integrationsgeschichte! Und deshalb zählen unser Zusammenhalt und unsere Entschlossenheit auch wie nie zuvor! Lassen Sie uns gemeinsam einstehen für Demokratie und Menschenrechte! Lassen Sie uns gemeinsam kämpfen gegen Populismus und die einfachen Antworten! Lassen Sie uns eintreten für unsere europäischen Werte und gegen diejenigen, die sie bedrohen: für Sicherheit und Stabilität, für Freiheit und einen gerechten Frieden!